Grundsätze der LABEWO -

ein Plädoyer für eine neue Kultur der Sorge und Pflege

PRÄAMBEL

Der Ausbau von ambulant betreuten Wohngemeinschaften ist in Baden-Württemberg politisch gewünscht und seit Inkrafttreten des Wohn-, Teilhabeund Pflegegesetzes 2014 rechtlich verankert. Sie stellen neben den klassischen Pflegeeinrichtungen eine weitere Säule einer neuen Pflegekultur dar, deren flächendeckende Entwicklung einen maßgeblichen Beitrag leisten kann, die dramatisch zunehmende Versorgungslücke zu schließen. Das entscheidende Charakteristikum ist, dass hier „Sorgegemeinschaften“ wirken, die gemeinsam und in geteilter Verantwortung Sorge tragen für ältere, betreuungs- und unterstützungsbedürftige Menschen im Quartier oder in der Dorfgemeinschaft. Dadurch entsteht ein wirkmächtiger Mehrwert, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Kommunen und Quartieren in besonderer Weise stärkt, älteren Menschen mit Unterstützungsbedarf die Möglichkeit eröffnet, am gewohnten Ort bleiben zu können, und neue Pflege- und Betreuungskapazitäten mobilisiert.

1. Aufbruch und Neuausrichtung​

Ambulant betreute Wohngemeinschaften sind mit ihrer Beteiligungskultur, ihrer zivilgesellschaftlichen Ausrichtung und ihrem Prinzip der „geteilten Verantwortung“ ein Innovationsbaustein beim Aufbau von „Caring Communities“. Caring Communities sind lokale Hotspots der gegenseitigen Unterstützung einer eigenständigen und aktiven Bürgerschaft. Die Sorgefähigkeit der Menschen vor Ort sichert den Zusammenhalt im Gemeinwesen und sorgt für deren Zukunftsfähigkeit. 

In vielen Kommunen stehen Wohngemeinschaften für Aufbruch und Neuausrichtung der Altenhilfepolitik, weg von einem Versorgungsdenken hin zu Modellen der Mitwirkung, Mitgestaltung und Mitverantwortung von Angehörigen und Bürger:innen vor Ort.

2. Das Prinzip der „geteilten Verantwortung“​

Ambulant betreute Wohngemeinschaften funktionieren nach dem Prinzip der geteilten Verantwortung im Sinne einer Sorgegemeinschaft. Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen hauptamtlich Mitarbeitenden, Angehörigen und engagierten Bürger:innen ist tragendes Prinzip. Gelebt wird eine Kommunikation auf Augenhöhe, flache Hierarchien sowie eine hohe Transparenz durch gute Kommunikationsstrukturen. Gemeinsam erarbeiten alle Akteure eine Rollen- und Aufgabenbeschreibung, die vertraglich fixiert und organisatorisch umgesetzt wird. Neu daran ist, dass die Rolle der Zivilgesellschaft mit ihren Akteuren entscheidend gestärkt wird. Damit die geteilte Verantwortung gelingt, braucht es eine unabhängige Moderation.

3. Zentrale Werte​

Würde, Selbstbestimmung und soziale Teilhabe sind die zentralen Werte für Bewohner:innen in ambulant betreuten Wohngemeinschaften. Ein selbstbestimmtes Leben und soziale Eingebundenheit von Menschen mit Unterstützungsbedarf sind dabei immer gekoppelt an Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeiten von Bewohner: innen bzw. ihren An- und Zugehörigen/ gesetzlichen Vertreter:innen.

4. Die Wohngemeinschaft als guter Wohn- und Lebensort

Das Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft orientiert sich an größtmöglicher Normalität und entspricht so weit möglich dem gewohnten Leben zu Hause. Tätigkeiten im Haushalt, offene Türen und der Kontakt zu Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn sind wichtige Säulen der Wohngemeinschaft als Lebensort. Die Wohngemeinschaft steht aber auch als Ort für würdiges Sterben, das Bewohner:innen und Angehörigen die Möglichkeit bietet, getragen von der Gemeinschaft, Abschied zu nehmen.

5. Neue Dimensionen von Qualität

Die Qualität von Wohngemeinschaften in geteilter Verantwortung wird nicht ausschließlich fachlich definiert. Denn alle Akteure tragen durch ihre Beteiligung und ihren (kritischen) Blick in die Wohngemeinschaft zur besonderen Qualität bei: Angehörige bringen das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Eintrittspflicht füreinander ein, engagierte Bürger:innen Solidarität, die Profis garantieren fachliche Standards und verantworten eine gute Betreuung und Pflege. In diesem Sinne bemisst sich die neue Dimension von Qualität darin, in welcher Weise eine Kultur der Beteiligung und Mitsprache im Alltag gelingt.

6. Mitarbeiter:innen und Beteiligungskultur

Ambulant betreute Wohngemeinschaften stehen für eine Beteiligungskultur der Mitarbeiter:innen. Mitarbeitende in Pflege und Betreuung wünschen neben einer angemessenen Bezahlung, mehr Zeit für die Bewohner:innen, vor allem aber Arbeitsbedingungen, bei denen sie mitgestalten und sich einbringen können. Auf diese Weise wird ein attraktives und sinnstiftendes Arbeitsumfeld geschaffen. Eine „Co-Produktion“ von Pflegearbeit, getragen von Fachpflegekräften, Alltagsbegleiter:innen, Angehörigen und Zivilgesellschaft ermöglicht den (professionellen) Mitarbeiter:innen ihre Arbeit in einer ganz neuen Dimension wahrzunehmen.

7. Zivilgesellschaftliche Mitverantwortung

Wohngemeinschaften bieten nicht nur Angehörigen ein hohes Maß an Mitsprache- und Mitgestaltungsrechten, sondern auch Raum für ein mitverantwortliches bürgerschaftliches Engagement.

Bürgervereine bzw. Unterstützerkreise sind unverzichtbarer Bestandteil von Wohngemeinschaften in geteilter Verantwortung. Sie initiieren, unterstützen, gestalten und prägen von Anfang an „ihre WG in ihrem Dorf/Quartier“ mit und sorgen so für eine lokale Verankerung der WG vor Ort. Bürgervereine/ Unterstützerkreise als solche haben immer eine unabhängige und neutrale Funktion gegenüber Entscheidungsinstanzen und fungieren so auch in WGs als Korrektiv (Hüterin des Konzeptes) und Advokat für die Interessen der Bewohner:innen.

Zivilgesellschaft kann sich auch als Mitfinanzier, zum Beispiel von genossenschaftlichen Wohnmodellen, mitverantwortlich einbringen.

8. Kommunen als Ermöglicher

Wohngemeinschaften sind Lebensorte zivilgesellschaftlichen Handelns und Teil kommunal verantworteter Daseinsvorsorge. Der demografische Wandel wird zur Mega-Aufgabe der Kommunen und der gesamten Gesellschaft. Kommunen sind Mutmacher und Unterstützer der lokalen Akteure. Sie motivieren, sie befähigen und ermöglichen die Mitgestaltung und Mitverantwortung für eine neue Sorge- und Pflegekultur. Sie initiieren, begleiten und fördern die Entwicklung von Wohn- und Sorgegemeinschaften vor Ort. Sie stärken und entlasten diese durch den Aufbau von regionalen und lokalen Unterstützungsnetzwerken. So wird Subsidiarität im gemeinsamen Wirken neu definiert, der gesellschaftlichen Spaltung entgegengewirkt und der Zusammenhalt gefestigt